cn: Suizidalität
September ist "suicide prevention month". Ich finde es sehr wichtig, dass es diesen Monat gibt. Gleichzeitig finde ich Kritik daran wichtig, dass es in diesem Monat in der (Social Media-)Öffentlichkeit häufig vor allem um Interventionen in den Momenten geht, in denen jemand akut vorhat, das eigene Leben zu beenden. Deshalb veröffentliche ich diesen Text auch bewusst erst im Oktober und möchte hier den Blick auf Suizidalität etwas weiter öffnen.
Denn Suizidalität beschränkt sich nicht auf den Moment, in dem jemand versucht, sich das Leben zu nehmen. Suizidalität ist nicht (nur) eine Krise, die verhindert werden sollte.
Denn es kann sehr gute Gründe haben, warum jemand sterben will, z.b. wenn die Person eine schwere oder chronische Krankheit hat und darunter oder unter mangelnder Versorgung leidet.
Aber abgesehen davon kann Suizidalität auch etwas sein, was wohl die wenigsten damit verbinden würden: ein Lebensgefühl.
Es gibt Menschen - und zu denen gehöre auch ich - die seit Jahren von den Gedanken an Suizid begleitet werden. Das erste Mal bewusst geworden ist es mir denke ich im Alter von 19 Jahren. Ich bin jetzt über dreißig und diese Gedanken haben mich bis heute nicht verlassen.
Und wisst ihr wie viele Versuche ich unternommen habe?
null.
Wie oft ich es geplant habe?
vielleicht ein oder zwei Mal, für einen kurzen Moment.
Das heißt, ich war noch nie in dieser "Krisensituation", an die die meisten denken, wenn sie das Wort "Suizid" hören.
Dennoch belastet es natürlich das Leben, prägt bzw. verunmöglicht den Blick in die Zukunft, das Pläne machen, mal mehr, mal weniger. Mal geht es darum, was in einem Jahr sein könnte, mal was in fünf Jahren sein könnte, mal was nächste Woche sein könnte.
Auch diese Gefühl ist also, wie alle anderen, den Schwankungen des Lebens ausgesetzt, ist ein Teil meines Lebens. Ebenso die Fantasien diesbezüglich, die Methoden, der Ort, die konkreten Gründe dafür und die dagegen. Aber das Gefühl ist da, immer und immer wieder taucht es auf.
Was Menschen wie ich brauchen, ist keine Krisenintervention, was wir (und ich denke auch Menschen in akuten Ausnahmesituationen) brauchen, ist nicht eingesperrt und kontrolliert zu werden. Was wir brauchen, ist darüber sprechen zu können, dass dieses Gefühl da ist, Verständnis dafür, dass es uns begleitet und dass es nicht einfach so oder vielleicht auch nie wieder verschwindet und die Möglichkeit, über unser Leben soweit wie möglich selbst bestimmen zu können, nicht nur darüber, es zu beenden, sondern auch darüber, es zu gestalten.
Menschen in Krisen zu unterstützen ist wichtig, aber mindestens genauso wichtig ist, zu verstehen, woher (lebenslange) Suizidalität kommt, welche (politischen wie persönlichen) Verhältnisse dazu führen. Und es ist wichtig zu verstehen, dass Suizidalität als Lebensgefühl und Suizidalität als akute Krise beide gleich real und valide als Gefühl sind (und natürlich auch verbunden sein können). Chronisch suizidale Menschen sind nicht "zu ängstlich" um einen Versuch zu unternehmen, sie behaupten nicht, suizidal zu sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen (was ohnehin absurd ist, da die wenigsten überhaupt einmal offen darüber sprechen), sie behaupten sie auch nicht, um zu manipulieren.
Wie für alle Gefühle gibt es auch für Suizidalität viele mögliche Gründe und Auslöser und für diese sollten alle, die Suizide möglichst verhindern wollen, aufmerksam und offen sein (also zuhören) statt zu versuchen, Menschen zu kontrollieren.
Suizid und Suizidalität gehörten und gehören zum menschlichen Leben dazu. Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht dazu, in dieser Weise über seinen Körper zu verfügen. Genauso ist es aber richtig, darauf hinzuweisen, dass viele aus gesellschaftlichen bzw. letztlich politischen Gründen Suizid begehen, aus Gründen also, die sich ändern ließen; nicht mit dem Wegschließen und der (medikamentösen) Bearbeitung von Betroffenen, sondern mit Wohnraum, gesellschaftlicher Teilhabe, medizinischer Versorgung und vielem mehr, was zur selbstbestimmten Gestaltung des Lebens dazugehört.
So verschwindet Suizidalität als Lebensgefühl vielleicht nicht, aber die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie jemals zur akuten Krise wird oder umgesetzt wird.
Vielen Dank für das Lesen meiner Sicht auf dieses Thema.
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